DER SPIEGEL, Donnerstag, 23. Dezember 1948, S. 5-6
Mit dem Stuhl unter dem Arm

Wie die Zuchthäusler
Alexisdorf im Bourtanger Moor wird nicht mehr länger Alexisdorf heißen. Die Post hat den frommen Namen Neu-Gnadenfeld bereits akzeptiert. Die Anerkennung als "politische Gemeinde" soll bald folgen. Dann wird die neue Heimat der Herrnhuter im Emsland rechtlich und auf dem Papier fest und sicher gegründet sein.  

Für Ottilie Bauer ist es kein Wunder, daß sie nun doch zu einem Siedler-Ziel und neuem Anfang gekommen ist. Damals, als sie im Güterwagentreck der Vertriebenen auf pommerschen Gleisen lag, hat sie das alles schon im Traum gesehen: die niedrigen Baracken, die braunen Torfberge, die weite, ernste Moorlandschaft.  

Die Bauers waren auf ihren 80 Morgen in Prinzlaff in der Weichselniederung glücklich, bis die Kriegsnot über sie hereinbrach: Vater Bauer von Polen fortgebracht, ein Sohn von Plünderern erschossen, das Haus in fünf Minuten geräumt, schließlich die Vertreibung aus dem alten Heimatland mit allen Schrecken.  

Im Notquartier Salzgitter hörte Ottilie Bauer: "Die Herrnhuter siedeln im Bourtanger Moor". Sie dachte an ihren Traum und daran, daß ihr Mann selbst Mitglied der Brüdergemeine war. Eines Tages - Frühjahr 1946 - zog sie mit ihren Kindern in dem weitläufigen Barackenlager Alexisdorf ein. Das Lager war wüst und leer. Seine Vergangenheit unrühmlich und traurig: Zuchthäusler, Arbeitsdienst-Männer. KZ-Moorsoldaten, renitente Kriegsgefangene auf Absterbe-Etat.  

Weil hier Tb-Bazillen daheim waren, wollten die Briten 1945 die Baracken abbrennen. Ein Veto des Kreises Grafschaft Bentheim rettete seinerzeit. Mit nachfolgender Desinfizierung.  

Bei Niedersachsens Premier Kopf hatte zur selben Zeit der Bischof der Herrnhuter, Steinberg, vorgesprochen, um irgendwo Land für seine vertriebenen Diasporanten zu bekommen. Hinrich Kopf kannte aus seiner schlesischen Zeit die Qualitäten der Brüdergemeine. Wo Herrnhuter Siedler in Osteuropa Fuß faßten, verwandelten sie trostloses Oedland in blühende Landschaft. Nun sollten sie sich auf den Staatsflächen des Bourtanger Moors versuchen.  

Das jetzige Kleindeutschland mit seiner übereinander hockenden Bevölkerung weiß das Landreservoir zu schätzen. Doch setzt es zu große Hoffnung auf die West-Kolonisierung Denn Geld und Maschinen fehlen zu einer großzügigen Landgewinnung. Von 25000 ha Oedland im Emsgebiet ist die Hälfte urbar zu machen.  

Doch das muß sogar ein Plan auf sehr lange Sicht sein. Bei allergünstigsten Bedingungen können zur Zeit nur 400 ha im Jahr entmoort werden. Frühjahr bis Spätsommer fallen wegen Regens aus.  

Das Landeskulturamt Niedersachsen überrechnet melancholisch die Kosten: 1200 rare Deutsche Mark etwa müssen ins Moor geworfen werden, um nur einen Hektar ertragfähigen Bodens zu gewinnen. Amortisation erst in Jahrzehnten.  

"Was möglich ist, wird getan" (Landeskulturamt). Und es wird an etlichen Stellen kolonisiert. Am eifrigsten in Alexisdorf.  

Dem Ruf des Bischofs und dem Beispiel Frau Bauers folgen viele, viel zuviel. Nur noch 4½ qm Wohnraum und weniger ist für jeden da.  

Der Anfang war bitter. Mit Spaten und Schippe zogen die neuen Landeroberer in das unübersehbare Moor, um Gräben zu ziehen, wie es die Zuchthäusler Jahre zuvor getan hatten. Die harte Arbeit vertrieb manche wieder in die Untermieterquartiere der Städte.  

Dann rollten eines Tages an die 15 Eisenbahn-Waggons auf dem Kleinbahnhof am Südende des Moores ein: Wilhelm Ottomeyer persönlich rückte mit seinen großen Dampfpflügen dem Alexisdorfer Problem zu Leibe. Tag für Tag arbeitet sich seitdem der große Kuhlpflug mit seinem stattlichen Gewicht von 400 Zentnern und einem Tiefgang von 140 Zentimetern durch die flachgründigen Moorteile.  

Zuweilen stapft der 79jährige Chef Ottomeyer zwischen seinen geldbringenden Spezialitäten umher. Mit einer respektablen Melone auf dem Kopf und steifem Kragen um den faltigen Hals.  
Die Hochmoorstreifen müssen zunächst durch Gräben entwässert werden. Da hilft kein Ottomeyer. Da müssen die Neusiedler selbst mit dem Spaten heran. Oder sie sorgen für den Winter. Das Heizungsmaterial liegt direkt vor dem Lager. Man muß den Torf nur stechen.  

Kraft für Moor, Arbeit, Primitivität und Einsamkeit holen die Herrnhuter aus ihrem Glauben. Es ist der Geist von Zinzendorf.  

Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Jünger des Pietismus, machte sein Gut Berthelsdorf in der Oberlausitz zum Schutzort für mährische evangelische Glaubensverfolgte. Und gründete mit ihnen die Ortschaft Herrnhut. Brüderliche Liebe und gegenseitige Unterordnung solle hinfort die Menschen miteinander versöhnen, hieß es bei der Proklamation der Brüdergemeine anno domini 1727. "Brüder und Schwestern" konnten Gläubige aller evangelischen Gemeinschaften werden.  
Herrnhuter Dörfer entstanden in unkultivierten Gebieten. Ihre Namen kündeten meist von "Gnade". Neu-Gnadenfeld wird es auch tun.  

Langsam wächst das Dorf aus dem Moor. 32 Bauernfamilien werden 60 Morgen haben, Hecken zwischen den Aeckern und viel Weideland. Gartenstellen für Teilselbstversorger sollen die Hauptzahl der Vertriebenen aufnehmen. Eine Arbeiter-Siedlung möchte man am Coevorden-Piccardie-Kanal errichten. Wenn es gelingt, dort eine Industrie anzusiedeln.  

Auch für den Häuserbau will der Staat tief in die Kassen greifen. Kein Siedler kann heute 12000 DM und mehr für einen "primitiven Hof mit Ausbaumöglichkeit" bezahlen. Doch das alte Wort vom Moorsiedler soll nicht mehr Gültigkeit haben: "Es erntet die erste Generation Tod, die zweite Not, die dritte Brot."  

Für die 800 Menschen ist gesorgt, die schon im Moor leben. Oft müssen jetzt Landsucher aus Neu-Gnadenfeld wieder abziehen. Das Dorf ist fertig geplant.  

Im Mittelpunkt wird die schlichte Kirche stehen. Heute ruft das kleine Glöckchen in eine große Baracke zur Andacht. Dann ziehen die gottliebenden Herrnhuter jeder mit seinem Stuhl unter dem Arm über die Lagerwege. Der eigene Posaunenchor bläst fromme Weisen.  

Die neue Gemeinde hat kein Geld. Ihre Mitglieder haben auch keins. 56 Pfennig verdient der kaum 20jährige Gerhard Bauer pro Stunde bei der Moorkultivierung. Seine Schwestern Maria und Hanna sind arbeitslos. Vor der Währungsreform waren die Herrnhuter Frauen bei den Spinnereien des Kreises beliebt. Denn ihr Glauben bürgte für unbedingte Ehrlichkeit. Nach Weihnachten hoffen die Bauer-Töchter Stickarbeit zu bekommen.  

Ottilie Bauer spinnt abends Wolle, um zusätzlich etwas Geld zu verdienen. Oft weiß sie nicht, womit sie das Brot von den Karten abkaufen soll. 25 Mark zum Einkaufen hatte sie einmal für 14 Tage. Der Mann fehlt eben.  

Aber sie verzweifelt nicht. In ihrem klaren westpreußischen Gesicht steht Vertrauen. Sie sagt ganz einfach: "Der treue Gott hilft weiter, von einem Tag zum andern".

Der Spiegel 1948

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